Wenn der Zug steht, drehen die Leute durch

Schlägt man die Zeitung auf, könnte man sich die ganze Zeit aufregen. Die Welt geht vor die Hunde – und das täglich. Was passiert aber, wenn ein Zug am Freitagnachmittag auf offener Strecke einfach stehen bleibt. Da geht es nicht mehr um die Euro-Rettung oder den FDP-Vorsitzenden. Es ist viel banaler. Der bahnfahrende Bürger dreht frei. Bei manchenm geht jeder Anstand binnen wenigen Minuten flöten.

Aber worum geht’s?

Der Regional-Express der Linie 1 von Berlin nach Frankfurt (Oder) bleibt auf seiner Fahrt am Freitagnachmittag plötzlich stehen. Erst mal passiert 20 Minuten nichts. Dann meldet sich die Zugbegleiterin und erklärt die Lage. Ein vorausfahrender Zug hat die Oberleitung so beschädigt, dass unser Zug seinen Weg nicht auf dem vorgesehenen Gleis fortsetzen kann. Wir werden in einigen Minuten zurücksetzen müssen, das Gleis wechseln und dann irgendwann auf dem anderen Gleis an der schadhaften Stelle vorbei fahren.

Ich schreibe diesen Text, während ich im Zug sitze.

In regelmäßigen Abständen gibt die umtriebige Zugbegleiterin den aktuellen Stand der Dinge bekannt. Auch wenn es gerade nichts Neues gibt. Sie erklärt was als nächstes passieren wird und entschuldigt sich dafür, dass sie uns nicht mitteilen kann, wie lange es noch dauern wird.

Was sich in dieser Zeit in meinem Wagen abspielt, möchte ich hier kurz darstellen. Nach der zweiten Durchsage (Stand der Dinge und Entschuldigung) bricht es aus einem älteren Herren mit Hut und Stock heraus: „Dann halt doch die Fresse.“ Großes Gelächter im Abteil. Fast alle feixen mit. Dem Herrn scheint seine neue Popularität zu gefallen. Ganz besonders weil ein paar Teenager, die sich bis zu diesem  Zeitpunkt völlig ruhig verhalten haben, in sein Gezeter einstimmen.

Es geht erst gegen die Bahn an sich, dann gegen die S-Bahn und zu guter Letzt wird der Untergang Deutschlands heraufbeschworen. Alles nur wegen einer kaputten Oberleitung… Als der Herr dann noch meint, dies wäre die Rache von Margot Honecker, hat er den Bogen überspannt. Seine jugendliche Fangemeinde kann nicht mehr folgen. Endlich wird er ruhig.

Ich koche innerlich. Nicht wegen der Zwangspause sondern wegen dieses Typen. Er ist ca. 70, hat einen Gehstock mit Silbergriff und den unvergleichlichen selbstverliebt intellektuellen Gymnasiallehrer-im-Ruhestand-Habitus. Er ist der Typ Mensch, der sich den ganzen Tag über die Jugend aufregt. Heute ist er schlimmer…

Im Zug geht es munter weiter. Man feixt und droht verbal der Zugbegleiterin. Der Teenie vor mir setzt nach kurzer Aufwärmphase zum großen Schlag an, um das Mädel neben ihm mit seiner Männlichkeit zu beeindrucken: „Ich stech Dich ab“ ruft er bei der nächsten Durchsage der Zugbegleiterin. Er wird dann noch konkreter: „In welchem Wagen sitzt die denn? Wenn ich die finde, schlage ich die zusammen.“ Nur zum Verständnis. Der junge Mann ist kein Neuköllner Schläger. Der sieht er nach Geigenstunde im Grunewald aus. Und zwischendurch wird auch immer noch brav mit Mutti telefoniert…

An dieser Stelle zwinge ich mich ruhig zu bleiben. Ich weiß nicht ob das gut ist. Gehört es zur Zivilcourage, auch in solchen Momenten einfach mal aufzustehen und die Mitbürgen an so was wie Anstand zu erinnern? Ich weiß es nicht. In jedem Fall wird mir auch mit Blick auf das zurückliegende Jahr eines klar. Wir sollten uns alle endlich mal wieder dazu durchringen, ruhig zu bleiben. In jeder Lebenslage. Dann wird es zukünftig auch wieder leichter.

2 Gedanken zu „Wenn der Zug steht, drehen die Leute durch

  1. Sven Schlebes

    Sehr schönes Bild, das ich aus meinem Leben (ist aber keine Verallgemeinerung) nur bestätigen kann. Der sogenannte brave Bürger, manche nennen ich auch einfach den CDU- oder FPD-wählenden Spießer, der angesichts der sichtbar werdenden Brüchigkeit unserer Lebenswelt zuerst süffisant zurücklehnt, dann von früher erzählt, den Bogen macht über ANTI-EURO, ANTI-MERKEL, ANTI-GRÜN, ANTI-KLIMAWANDEL und sowieso gegen ANTI-ISLAM. Wir hatten heute in der Agentur noch die besondere Gelegenheit, so einen Menschen begegnen zu dürfen. Bieder im Aussehen, doch er hätte besser die Klappe gehalten, um seinen tiefen Hass gegen alles Neue zu verbergen: Seine Kontakte zu Menschen aus der NSU, seine Hoffnung auf Herrn Henkel und Merz und die neue C-Gruppe in der Union, sein Engagement gegen das Eurokrateneuropa usw. Wunderbar, dass diese Gruppe von Menschen, die dieses Land bis hierher gebracht hat, sich nun angesichts der Katastrophe, die sie durch ihr bigottes Verhalten mit verantwortet hat, sarkastisch zurücklehnt, als wenn sie damit nichts zu tun hätte, dann die Schuld auf alle schiebt und den Untergang heraufbeschwört. Gut, dass eure Zeit vorbei ist.

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    1. Eren

      21. Februar 2011Mussen wir den Chinesen alles aaehcbusn und einfuhren. Kann meinen Hund, Katze, Hasen passend zu dem jeweiligem Pelzmantel farben, auch eine Idee. Alles kann auch etwas zu weit gehen.

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