Wieder ist etwas bedroht. Nicht der Euro oder der Bundespräsident. Es ist viel grundsätzlicher: Die SPRACHE. Oder genauer gesagt: Die Sprachkompetenz. Das jedenfalls kann man heute bei der Rhein-Zeitung lesen. Was bedroht wohl unser höchstes Kulturgut? Twitter, natürlich…
Und wer verkündet uns diese Jahresanfangsbedrohung am 2. Januar 2012? Hans Zehetmair, der Vorsitzende des Rates für deutsche Rechtschreibung. Herr Zehetmair, ehemaliger Kultusminister Bayerns, Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung und studierter Germanist mit Abschlussjahr 1962, bezeichnet die Verwendung von Sprache in Diensten wie SMS und Twitter als „Fetzenliteratur“. Schau an.
Der sprachliche Abgrund ist tief
Bemängelt wird unter anderem auch folgendes: „Eine junge Generation schreibt heute – um eine Liebe zum Ausdruck zu bringen – keine Briefe mehr, sondern „HDL“ – „Hab Dich lieb““. Da ist er wieder. Der sprachliche Untergang des Abendlandes. Und das nur weil die Jugend eine Floskel (!!!) abkürzt. Das haben Goethe, Schiller und Charlotte Roche wirklich nicht verdient.
Doch das Elend geht noch weiter. Laut Zehetmair wird immer weniger gelesen und auch unter jungen Menschen immer weniger geschrieben. SKANDAL (würde Gregor Gysi jetzt brüllen)! Aber irgendwie stimmt das beides nicht so ganz. Erst in der letzten Woche lernten wir wieder, dass das Buch das beliebteste Weihnachtsgeschenk der Deutschen ist.
Sogar ich habe zwei dieser gebundenen Papierstapel bekommen und weiß gar nicht, wann ich die lesen soll. Denn ich schreibe. Oh oh. Aber nicht wie Herr Zehetmair es in Briefen und Tagebüchern tat oder tut sondern in Blogs, Foren und – ja – auf Twitter. Denn dieses Medium ist auch für mich zurzeit sowohl literarische Herausforderung und als auch spannende Lektüre.
Die Fehler von heute sind die Normen von morgen
In meinem Linguistikstudium (nicht Germanistik) habe ich einen wichtigen Grundsatz gelernt und dafür bin ich meinen Dozenten jeden Tag dankbar: Unsere und jede andere Sprache entwickelt sich permanent weiter. Wenn sie das nicht mehr tut, ist sie tot. Eine jüngere Professorin hat sogar die These gewagt, dass die Fehler von heute zu den Normen von morgen werden. Da ist einiges dran.
Natürlich gibt es eine normierte Sprachtheorie. Massenwirksam zusammengestellt ist diese in der falsch verstandenen Bibel der Sprachbewahrer, dem DUDEN. Änderungen dieses Werkes können schon mal zu einem mittleren Kulturkampf führen. Doch dieses Regelwerk ist auch in seinem Selbstverständnis kein zeitüberdauerndes Manifest der deutschen Sprache. Es dient dem Erlernen der Sprache und als Nachschlagewerk.
In diesen Bereichen ist der DUDEN als Teil der Schulbildung und im normierten Schriftverkehr wichtig. Für die Sprache als Handwerkszeug der Literatur ist er aber eher Hindernis als Motor. Die Bastian Sicks dieser Welt übersehen leider auch viel zu oft, dass selbst der DUDEN nicht selten nicht nur eine Sprachwahrheit darstellt, sondern sehr deutlich auch Alternativen angibt.
Der Linguist nennt dieses Phänomen schlicht „Sprachwandel“. Das hat es gegeben, seit Luther seine Bibel übersetzte und es ist bis heute völlig normal. Oder würden Sie noch sagen/schreiben, dass sie mit ihren Liebsten vor Weihnachten Plätzchen bucken? Vor einigen Jahrzehnten war das noch Standardsprache, heute ist es Geschichte. Hoffentlich ist das auch bald das Schicksal des zehetmairschen Sprachverständnisses. Schön wär es…
Update 02.01.2012, 20:00 Uhr:
Hans Zehetmair hat es mit seinen steilen Thesen auf viele Online-Portale geschafft und wird in den nächsten Tagen garantiert durch alle Regionalzeitungen gereicht. Hier die Google-News-Suche zum Thema.
Leserbrief
Der ehemalige Kultusminister Hans Zehetmair beklagt zu Recht, daß das, was
früher einmal als Muttersprache bezeichnet wurde, heute oft nur noch bruchstückhaft über die elektronischen Medien ausgetauscht wird. So stellt er fest, daß die Sprachkompetenz vor allem bei jüngeren Leuten stark nachläßt, da sie sich fast ausschließlich über kabellose Übermittlungsträger austauschen. Abkürzungen und Teilsätze ohne Substantive sind meistens die Regel. Kritiklos übernommene Anglizismen, die Modernität suggerieren sollen, tun ein Übriges.
So haftet den Ausdrucksformen eine Unschärfe an, die insbesondere dem Bildungs- standort Deutschland schadet, denn wissenschaftliche Arbeit wird durch unpräzisen und mehrdeutigen Sprachgebrauch zumindest sehr erschwert. Das einzig offen- sichtlich Erfreuliche ist, daß Herr Zehetmair nun endlich diese Erkenntnisse gewonnen hat und sie auch öffentlich ausspricht, nachdem er selbst als Kultusminister und als Vorsitzender des Rats für deutsche Rechtschreibung eher zweifelhafte und wenig zielführende Rechtschreibreformen mit auf den Weg brachte. Daß sich diese Lockerung vom sprachlichen Regelwerk einmal in solcher Art in Richtung Chaos entwickeln würde, hätte er wohl damals selbst nicht für möglich gehalten.
Roland Grassl , 77815 Bühl